Die Sitta-Credette, das Kasseler Volksmoped
Ein Moped aus Kassel? Gibt es das? Ja, es gab sogar zwei Hersteller, zum einen die Firma Credé, die die Sitta-Credette baute, und zum anderen die Firma SIGURD, ein Kasseler Versandhaus, welches ihre selbst produzierten Mopeds unter dem Namen SIGURD Sachs 50 über ihren Versandhauskatalog vermarkteten.
Die Sitta-Credette II
Nach dem 2. Weltkrieg bestand ein großer Bedarf an preiswerten Fahrzeugen. Zunächst wurden Fahrräder produziert, die teilweise mit Anbaumotoren ausgestattet wurden. 1953 brachte Ilo den Motor FP 50 heraus, der in fahrradähnliche Rahmen eingebaut werden konnte. Den großen Boom erlebte das neue Fahrzeug auf der IFMA 1953 in Frankfurt, auf der gleich 16 Hersteller diese motorisierten Zweiräder vorstellten. Nach Stand der StVZO waren dies allesamt Fahrräder mit Hilfsmotor. Gleichzeitig hatte Ilo einen Preis ausgeschrieben, um eine passende Bezeichnung zu finden. Diese stammt aus dem Schwedischen, wo man für derartige Fahrzeuge Moped sagte, eine Ableitung aus Motor und Pedaler. Dieser Begriff setzte sich schnell durch und wurde später auch so in die StVZO aufgenommen.
Geschichtliches zu Sitta
Der Oberingenieur für Flugzeugbau Helmut Ordemann aus Sittensen, zwischen Hamburg und Bremen gelegen, wollte seiner Ehefrau einen Motorroller schenken, mit dem sie zum Einkaufen fahren konnte. Es kam aber nur ein Eigenbau infrage. So baute er 1949 den ersten Sitta-Motorroller. Aufgrund des großen Zuspruchs nach Vorstellung des ersten Prototyps gründete Ordemann im gleichen Jahr mit dem Kaufmann Gerhard Hauser die Hummelwerke in Sittensen und begann mit der serienmäßigen Produktion von Motorrollern. Interessant ist der gewählte Name Sitta, dieser bedeutet: Als Person mit aufrechtem Oberkörper auf dem Hinterteil (aus-) ruhen.
Motorisierte Zweiräder waren nach den entbehrungsreichen Jahren des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit das Auto des kleinen Mannes, ein echter Verkaufsschlager. Als Eigenerzeugnisse wurden in Sittensen Rohrrahmen und Benzintanks hergestellt. Alle übrigen Teile kaufte man zu. Zusammenbau, Lackierung und Elektrik-Einbau erfolgten in der eigenen Werkstatt. Mit der wachsenden Nachfrage, vor allem aus dem Ausland, stiegen die Produktionszahlen, die Anzahl der Mitarbeiter im Hummelwerk wuchs zeitweilig auf 60 Personen. Schnell wurde die Produktpalette um Mopeds und Motorräder erweitert. Das größte Kraftrad war eine 250-er mit einem 2-Zylinder-Ilo-Motor.
In Spitzenzeiten verließen bis zu vier Maschinen – Motorroller, Mopeds und Motorräder – pro Tag das Werk. Der Absatzmarkt erweiterte sich, es folgten Auslandslieferungen nach Kuba, Schweden, Dänemark, in die Schweiz und nach Indonesien. 1954 wurde das Sitta-Werk dennoch geschlossen. Grund war das Wirtschaftswunder, das es einer immer breiteren Käuferschicht erlaubte, Auto zu fahren. Dadurch ging der Motorrollerumsatz stetig zurück und kam Ende der sechziger Jahre fast zum Erliegen.
Kopie der Seite 24 aus dem Sigurd Katalog von 1953
Das war aber nicht das Ende der Sitta-Zweiräder. Gebrüder Credé & Co, Fahrzeugbau, in Kassel übernahmen einen Teil der Produktion und fertigten von 1954 – 1957 drei verschiedene Mopeds unter dem Namen Sitta-Credette. Dem ursprünglichen Namen Sitta wurde das Credette (Bezug auf Credé) angehangen. Ebenfalls flossen die Motoren von ILO in die Fertigung.
Anspruchslose Wartung und Unempfindlichkeit machten die Sitta-Credette mit diesem Motor zu einem besonders wirtschaftlichen Fahrzeug. Der breite, weiche Schwingsattel ermöglichte ein ermüdungsfreies Fahren, unterstützt von einer langhubigen Telegabel als Vorderradfederung.
Aus einem Werbetext von Credé:
Die "Sitta-Credette" verbindet Formschönheit, Robustheit, Sicherheit und Bequemlichkeit mit einem für Jedermann erschwinglichen Preis. Auffallend ist ihre elegante Linienführung, die alle Konstruktionselemente in einer ausgewogenen Harmonie miteinander verbindet. Der bewährte ILO-EINGANG-Motor gibt der "Sitta-Credette I" eine ausgezeichnete Beschleunigung und große Steigfähigkeit.
Der Sitta-Credette I folgten die Modelle Sitta-Credette II und III. Wobei beim Modell II anfangs der Unterschied darin bestand, dass man einen Motor mit Zweiganggetriebe verbaute, was sich günstig auf den Kraftstoffverbrauch auswirkte. Im PKW-Bau spricht man heute von Facelifting, wenn an einem bestehenden Modell Änderungen vorgenommen werden. Das war dann auch bei der Sitta-Credette II der Fall. Sie bekam kleinere Räder und eine hintere Schutzblechverkleidung. Die hintere Schutzblechverkleidung war speziell für Frauen in langen, weiten Röcken gedacht, damit sich diese nicht in den Speichen des Hinterrades verfangen konnten. Vor der Änderung waren in diesem Bereich dünne Gummiseile gespannt, die den gleichen Zweck erfüllten. Dieses Feature stammte aus den Anfängen des Fahrradbooms, mit der Einführung von Rahmen mit tiefem Einstieg, speziell für das weibliche Geschlecht.
In geringeren Stückzahlen wurde das Modell III herausgebracht, das sich optisch von seinen Vorgängern unterschied. Der Rohrrahmen wurde durch einen Stahlblechpressrahmen ersetzt. Diese optische Aufwertung erhöhte jedoch das Gewicht von 33 auf 35 kg. Die Credette war ein beliebtes Moped, nicht nur weil es pflegeleicht und robust war, auch die Geschwindigkeit war ein ausschlaggebender Faktor. Die Werksangabe von 45 km/h wurde stets übertroffen, bis 60 km/h waren möglich.
Während der Bundesgartenschau 1955 in Kassel wurden einige Sitta-Credette-Mopeds als Teil einer Werbeaktion präsentiert. Diese wurden von Besuchern genutzt, um sich auf dem Ausstellungsgelände der Bundesgartenschau fortzubewegen und gleichzeitig für das Produkt zu werben. Diese Aktion half, die Bekanntheit der Sitta-Credette zu steigern, und trug dazu bei, sie als praktisches und stilvolles Fortbewegungsmittel zu etablieren. Der 2.000.000-te Besucher erhielt eine Credette als Geschenk. Die Verwendung der Sitta-Credette während der Bundesgartenschau kann als Teil der Marketingstrategie betrachtet werden, um die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf das Moped zu lenken, dass sich sehr großer Beliebtheit erfreute. Dennoch musste auch Credé 1957 wegen starken Nachfragerückgangs die Produktion einstellen.
Technische Daten | Sitta-Credette I | |
Motor | Einzylinder-Zweitakter ILO, Bohrung 38mm, Hub 43 mm | |
Verdichtung | 1 : 6,5 | |
Dauerleistung | 1,5 PS bei 5.250U/min Höchstdrehzahl | |
Vergaser | 1/12/41 HD 56/ND 2,151 NS 2 | |
Elektr. Anlage | Noris-Schwunglichtmagnet 6 V, 3 W | |
Getriebe | 1-Gang, Freilaufnabe mit Rücktrittbremse | |
Rahmen | Zentralrohrrahmen, Teleskopgabel | |
Bereifung | vorn und hinten 26" x 2,00" | |
Bremsen | Vollnabenbremsen | |
Tankinhalt | 4,5 l, Gemisch 1:25 | |
Verbrauch | Normverbrauch 1,5 i/ 100 km | |
Gewicht | ca. 33 kg | |
Preis | DM 489,-- Aufpreis für einen Tachometer DM 20,-- | |
Änderungen | Sitta-Credette II, 1. Serie | |
Getriebe | 2-Gang mit Drehgriff-Schaltung | |
Sitta-Credette II, 2. Serie | ||
Bereifung | vorn und hinten 23" x 2,00" | |
Rahmen | Blechverkleidung am Hinterrad | |
Preis | DM 538,-- | |
Sitta-Credette III | ||
Rahmen | Stahlpressrahmen, Teleskopgabel | |
Gewicht | ca. 35 kg | |
Preis | DM 625,-- |
Die Drehgriff-Schaltung des 2-Gang-Getriebes
Der ILO-Zweitaktmotor
Die Sitta-Credette I
Die Sitta-Credette II, 2. Serie
Die Sitta-Credette III
An dieser Stelle möchte ich Paul Schirakowski gedenken, dem mein besonderer Dank gilt. Er war der Eigentümer der im Technik-Museum-Kassel ausgestellten Fahrzeuge. Paul verstarb leider 2022. Mit seinem außerordentlichen Fachwissen und seinem umfangreichen Archiv war er eine große Hilfe für mich, als ich mich mit dem Thema Moped auseinandersetzte.
Paul hatte ich kennengelernt, als er mit seinen Brüdern in der Holländischen Straße 49 das ehemalige Zweiradgeschäft von Ferdinand Klinge Ende der sechziger Jahre übernommen hatte. Mein Vater leitete zu dieser Zeit die Dolmar- Motorsägen Generalvertretung, die ihre Räume im gleichen Häuserblock hatte. Zu dieser Zeit ging ich noch in die Schule und musste nachmittags im Betrieb helfen. Die Brüder von Paul waren Kurt, Otto und Manfred, die alle mit dem Zweiradvirus infiziert waren. Kurt führte den Betrieb später allein weiter. Sein Sohn Dirk hatte die Firma unter dem Namen Zweirad-Schira vom Vater übernommen. Die Firma existiert heute noch in der Holländischen Straße 236 unter neuer Führung. Aber nicht nur dem Zweirad waren die Brüder verfallen, sie waren auch große Sportler. Ihre Karriere begann mit Seifenkistenrennen, wo sie sich mehrfach für die deutschen Meisterschaften qualifizierten. Darüber hinaus liebten sie das Wasser. 1968 wurden die vier Hessenmeister im 4-er Kanu, alle Brüder in einem Boot.
Dieser Link führt zu YouTube, wo ein Video von Paul zu sehen ist. Mit einer Credette aus der Ausstellung im TMK unternimmt er eine Probefahrt, aufgenommen von der HNA in Kassel.
Text: Jochen Spier, TMK
(last update 31.08.2024)
Hier finden Sie eine verlinkte Auflistung unserer seit Oktober 2020 vorgestellten Objekte des Monats.
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Quellen:
Begriff "Moped", https://de.wikipedia.org/wiki/Moped, abgerufen 15.03.2024
Prospekt Credé, Zweirad Archiv Paul Schirakowski
Bild der "Credette III", www.50ccm-museum.de , mit freundlicher Genehmigung von Herrn Christian Nachtigall
Bild von "Paul Schirakowski", HNA vom 17.02.2017, Fotograf Bastian Ludwig
alle anderen Bilder: Jochen Spier, TMK