Kurzschluss-Entfernungs-"Messung" mit einem Schnelldistanzrelais

Können Sie sich vorstellen, dass man mit einem elektromechanisch arbeitenden Relais, eingebaut in einer Schalttafel in einem Umspannwerk, die Entfernung zu einem viele, auch sehr viele Kilometer entfernten Kurzschluss auf einer Hochspannungsleitung so genau bestimmen kann, dass nur der betroffene Leitungsabschnitt innerhalb eines komplexen Netzes abgeschaltet wird? Also mit einem Relais, in dessen Spule durch den Kurzschlussstrom ein Magnetfeld entsteht, welches den bewegliche Anker des Relais anzieht, damit einen Kontakt betätigt, der nur den durch den Kurzschlussstrom betroffenen Leitungsabschnitt sehr schnell abschaltet, alle anderen Abschnitte mit zahllosen Verbrauchern aber weiter versorgt werden?

Selbstverständlich kann dieses Relais, welches die Bezeichnung "Schnelldistanzrelais" trägt, kein viele Kilometer langes Messband zur Entfernungsmessung auslegen, aber es kann die elektrischen Eigenschaften einer Hochspannungsleitung zur Bestimmung der Kurzschlussentfernung nutzen. Wie jeder Kraftwerksgenerator, jeder Transformator und jeder Motor hat auch eine Leitung einen Widerstand. Nicht nur den ohmschen Widerstand wie ein Bügeleisen oder Heizofen, welche damit Wärme erzeugen, sondern auch von der Frequenz abhängige induktive und kapazitive Widerstände. Diese bilden, nach geometrischer Addition, zusammen mit dem ohmschen Leitungswiderstand R einen Gesamtwiderstand Z, für den es aus der mittlerweile über 100-jährigen Erfahrung mit mehrfach verknüpften Hochspannungsnetzen ("Maschennetze") sehr gute Berechnungsbeispiele gibt.

Im oben vereinfacht dargestellten Hochspannungsnetz (Quelle *1) speisen zwei Kraftwerke ein Maschennetz, in dem zwischen den unteren Verknüpfungspunkten C und B ein Kurzschluss zur Erde entsteht, z. B. durch Blitzeinschlag und entstehenden Lichtbogen zum geerdeten Leitungsmast. Durch die Schutzrelais der beteiligten Schaltanlagen in A, B, C und D ist sicherzustellen, dass nur die Leitung zwischen C und B abgeschaltet wird und alle Verbraucher, die von den vier Schaltanlagen versorgt werden, bis auf ein kurzes Flackern des Lichts von dem Blitzeinschlag und Kurzschluss nicht beeinträchtigt werden.

Ohne jetzt auf Details wie die Berechnung der Kurzschlussströme einzugehen ist sicherlich verständlich dass von beiden Kraftwerken links von A und rechts von B über alle vier Leitungsabschnitte unterschiedlich hohe Ströme auf die Schadensstelle zufließen, welche über die acht Messeinrichtungen in jeder Station (je eine Schutzrelais in jeder Richtung) erfasst werden und zu bewerten sind. Dazu werden in allen Schnelldistanzrelais in jeder Richtung mehrere Zeitstufen genutzt, in jeder Zeitstufe die Kurzschlussentfernung ermittelt und außerdem die Richtung des Kurzschlussstromes bestimmt. Denn bei einem Kurzschluss zwischen B und C soll keine Abschaltung der drei Abschnitte zwischen A und C, zwischen A und D sowie zwischen B und D erfolgen.

Wie ermittelt man nun seit über 100 Jahren die Entfernung des Kurzschlussortes mit einem elektromechanisch arbeitenden Relais, welches lediglich Ströme und Spannungen messen kann. Der Gesamtwiderstand Z einer Leitung ist bekanntlich die Division einer anliegenden Spannung U durch den fließenden Strom J, also Z = U / J. Rechnen kann aber ein elektromechanisches Relais nicht. Am einfachsten lässt sich die Lösung mit einem Waagebalken erklären, rechts abgebildet (Quelle *2):

An der rechten Spannungsspule liegt – selbstverständlich über Wandler gemessen, z. B. 110 / 0,1 kV – die am Ort der Messung noch vorhandene Spannung U an, welche umso geringer ist je näher sie am Ort des Kurzschlusses liegt. In der linken Stromspule fließt – ebenfalls über Wandler gemessen, z. B. 500 / 5 A – der Kurzschlussstrom J. Solange kein Kurzschluss besteht, also z. B. die sekundäre Wandlerspannung 100 V anliegt, wird durch ihre elektrotechnische Auslegung die Spannungsspule den Waagebalken nach unten bis an den Anschlag ziehen sowie die Stromspule durch den normalen Betriebsstrom keine Auswirkung haben. Fließt aber ein Kurzschlussstrom, bricht die Spannung weitgehend zusammen und die Stromspule gewinnt am Waagebalken die Überhand: Dieser wird also links nach unten gezogen und betätigt den Auslösekontakt, der entsprechende Leistungsschalter in der Station kann also den Kurzschlussstrom abschalten.

Ob der oben beschriebene Waagebalken als prinzipiell denkbare Lösung für die Widerstandsmessung benutzt wurde ist nicht überliefert. Sicher wurde aber schon sehr früh die Ferrarisscheibe aus dem bekannten schwarzen Stromzähler, auf die mit einer Spannungs- und einer Stromspule ein Drehmoment wirken konnte, für einige Jahrzehnte benutzt. Die Widerstandsmessung mit der Ferrarisscheibe hat den Vorteil, dass mit ihr auch die Richtung des Kurzschlussstroms bestimmt werden kann und damit die Abschaltung nicht betroffener Leitungsabschnitte verhindert wird.

U. a. nutzte Prof. Dr.-Ing. e.h. Josef Biermanns dies in seinem 1923/24 vorgestellten Distanzrelais (Grafik links bzw. oben, Quelle *2), welches noch keine Zeitstufen kannte und außer der Ferrarisscheibe als entscheidendem Bauteil für die Entfernungsbestimmung noch ein Anregerelais für den Kurzschlussstrom beinhaltete. J. Biermanns kam nach dem Zweiten Weltkrieg nach Nordhessen, wohnte zunächst in Helsa, später in Kassel-Harleshausen und war der Leiter des AEG-Hochspannungsinstituts in der Lilienthalstraße in Kassel-Bettenhausen.

In der nachfolgenden Entwicklung des Distanzrelais kamen dann weitere Kurzschlussanregerelais sowohl für geerdete als auch mit Erdschlussspule für gelöschte Netze (im Bild oben die Relais für IR, IS, IT und IM) sowie ein motorisch ablaufendes Zeitrelais zur Zeitstaffelung hinzu. Ab 1938 wurde die Ferrarisscheibe durch zwei hochempfindliche Drehspulrelais (in der obersten Abbildung in der oberen Gerätereihe links und mittig abgebildet) sowohl für die Widerstandsmessung als auch die Richtungsbestimmung ersetzt und das bis dahin verwendete Distanzrelais durch ein Schnelldistanzrelais ersetzt. Dieses ermittelte in mehreren Zeitstufen mit den beiden Drehspulrelais die Impedanz und Richtung bis zum Ort des Kurzschlusses und verglich diesen mit im Relais aufgrund des spezifischen Netzaufbaus berechneten und dann voreingestellten Werten. Diese Technik ermöglichte die strom- und zeitselektive Auslösung der beiden Leistungsschalter links und rechts vom Kurzschlussort und Sicherstellung der weiteren Energieversorgung der nicht betroffenen Leitungsabschnitte im Maschennetz. Die Zeitstaffelung der ermittelten Impedanz, also des Gesamtwiderstands der Leitung bis zum Ort des Kurzschlusses, ermöglichte sehr kurze Auslösezeiten und wurde auch als Reserveschutz beim Versagen des dem Kurzschlussort nächstliegenden Leistungsschalters verwendet, also löste den Schalter bei A aus, wenn der Schalter oder das Schnelldistanzrelais bei C versagte.

Bei einem Besuch des TMK und einer vorbestellten Führung zur Elektrischen Energietechnik können Sie sich das Relais detailliert  erläutern lassen, alternativ besteht auch die Möglichkeit über einen QR-Code neben dem Exponat weitere Details kostenfrei herunterzuladen.

   
Text und Bilder: Wolfgang Dünkel, TMK

(last update 29.02.2024)

Hier finden Sie eine verlinkte Auflistung unserer seit Oktober 2020 vorgestellten Objekte des Monats.

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Grafikquellen:

*1: Schnelldistanzrelais SD 124 für Hochspannungsnetze; Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, Frankfurt – Berlin, Ausgabe und Jahr unbekannt

*2: Walter Schossig, VDE Thüringen e.V., Netzschutz-Magazin

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