Der Straßenbahn-Triebwagen TW 110

Der TW 110 gehörte innerhalb der Fahrzeugbetriebsnummern 101 – 113 zum dritten Wagentyp, den die "Große Casseler Straßenbahn Actiengesellschaft" (Vorgängergesellschaft der KVG) in den Jahren 1905 bis 1907 beschaffte. Auf der Kölnischen Straße wurde er kurz geparkt, der Lyra-Stromabnehmer wesentlich älterer Siemens-Bauart als die der späteren Fahrzeuge, musste – wie im Foto aus 1977 zu erkennen – durch das Fahrpersonal  für die andere Fahrtrichtung umgehangen werden und anschließend fuhr er über den Königsplatz und die Obere Königsstraße wieder nach Wilhelmshöhe zurück.

Wie die ersten 14 Triebwagen wurden auch diese dreizehn von dem Köln-Deutzer Unternehmen "Van der Zypen & Charlier" beschafft. Zwischen 1920 und 1923 wurde alle 13 Triebwagen durch die Gebr. Credé & Co. aus Niederzwehren bei Kassel durch neue Plattformen und leistungsstärkere Fahrmotoren modernisiert und blieben so bis nach dem zweiten Weltkrieg im Einsatz. Erst 1953 wurde dieser Wagen 110 wie einige andere aus der Serie nochmals umgebaut und erhielt Teleskop-Schiebetüren sowie vermutlich völlig andere Plattformen.

Um einen Eindruck vom ursprünglichen Aussehen des Triebwagens vor dem mehrfachen Umbau zu vermitteln, hier ausnahmsweise aus dem unten angegebenen Buch von G. A. Stör, Hrsg. KVG, ein gescanntes Bild des Schwesterfahrzeugs TW 103, geliefert 1905 und verschrottet 1966.

Das Fahrpersonal wie auch die Fahrgäste auf den beiden Plattformen waren Wind und Wetter ausgesetzt, was an einem heißen Sommertag sicherlich noch angenehm war. Aber bei spätherbstlichem Sturm und peitschendem Regen oder gar bei einem Schneesturm im bitterkalten Januar?

Der erste Umbau bei Credé in Niederzwehren erfolgte also kurz nach dem ersten Weltkrieg und ging bis in die Inflationszeit hinein. Die Wagen erhielten wie die ersten, ab 1898 gelieferten TW 1 – 14 neue geschlossene Plattformen, bei denen nur die Einstiege offen blieben, welche – in Fahrtrichtung gesehen – links durch ein Gitter versperrt wurden und bei Fahrrichtungswechsel umgehangen wurden. Ob die im TMK am TW 110 angebrachten Gitter noch denen des Originals, selbstverständlich ohne die Acrylglasverkleidung, entsprechen vermag der Autor nicht zu sagen. Auf jeden Fall erinnert er sich daran, denn sie waren auch bei älteren Beiwagen noch bis in die 60-er Jahre des verg. Jahrhunderts im Gebrauch.

Da die Kasseler Verkehrs-Gesellschaft Aktiengesellschaft (KVG) in 1977 Herausgeber des Buches war, der Triebwagen 110 im Eigentum der KVG im TMK steht und derzeit leider nicht zu besichtigen ist, halten wir eine Veröffentlichung für gerechtfertigt.

Der Wagen hatte wie die früher beschafften Triebwagen einen Aufbau aus Holz. Mit seiner Aufbaulänge von 8.850 mm konnten im Innenraum beiderseits nur drei Fenster untergebracht werden. Die 20 Sitzplätze waren im Gegensatz zu den zuvor von v. d. Zypen & Charlier sowie Credé gelieferten Triebwagen 41  80 mit ihren Längsbänken jetzt zum größten Teil wieder quer angeordnet. Am schmaleren Mittelfenster mit 1.415 mm waren einseitig zwei Doppelsitze, im Rücken dazu ebenfalls je ein Doppelsitz und auf der anderen Seite Einzelsitze angeordnet. Dies bedeutete auch einen sehr schmalen Gang in diesem Bereich. Zu den beiden Plattformen hin mit ihren 1.710 mm breiten Fenstern waren in Längsrichtung Doppelsitze links wie rechts eingebaut und ermöglichten dadurch den breiteren Durchgang durch die zweiflügelige Schiebetür zur Plattform. Von allen "Casseler-Holzklasse"-Straßenbahnen empfindet der Autor dieses Artikels den TW 110 und seine "Brüder" als die mit Abstand schönsten. Und dies nicht nur wegen des Fahr- und Bremshebel-Pultes aus ästhetischer sondern auch aus elektro-/antriebstechnischer Sicht (s. weiter unten).

Übrigens: "Casseler" ist der TW 110, weil in er Köln-Deutz entstanden ist, "Casselaner" oder gar "Casseläner" kann er also nicht werden. Da hilft ihm auch der Umbau bei Credé nicht, denn Niederzwehren wurde erst 1936 eingemeindet. Da hatte er seinen Umbau schon über 10 Jahre hinter sich und war also erwachsen geworden.

Der frühere Stromabnehmer wurde nach der oben abgebildeten Fahrt durch Kassel durch den für beide Fahrtrichtungen geeigneten Scherenbügel-Stromabnehmer ersetzt. Nun steht der TW 110 schon einige Jahre im Technik-Museum Kassel, kann derzeit aber leider nicht besichtigt werden. Daher diese drei weiteren Fotos aus unserem Depot. Oben von der Seite mit im Bild etwas "abgeschnittenem" Stromabnehmer und unten zusammen mit dem Wagen 8 der "Pferdebahn Cassel Wolfsanger GmbH", der ja immer ein "Beiwagen" vor dem "Antriebs-Pferd" war.

   

   

   

   

Und hier noch das Wappen der Stadt Kassel, welches bis 1930 an den Seitenwänden der Straßenbahn angebracht war, und an unseren Exponat erhalten geblieben ist. Die Bedeutung der beiden allegorischen Figuren links und rechts vom eigentlichen Wappen ist dem Autor leider unbekannt. Vielleicht kann ein Besucher dieser Seite helfen.

     

     

   

Der Fahrschalter mit aufgestecker Kurbel stelltt, vermutlich erstmals für Kassel, den neu entstandenen Hersteller und Lieferanten der elektrischen Ausrüstung des TW 110 vor:

Die Siemens-Schuckert-Werke GmbH (SSW) entstanden am 1. April 1903 durch Zusammenschluss der Starkstromabteilungen der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vormals Schuckert & Co. (EAG) in Nürnberg und Siemens & Halske. Mehrheitsgesellschafter der SSW war die Siemens & Halske AG, Hersteller der elektrotechnischen Fahrzeugausstattung der bisherigen Fahrzeugserien. Damit war für Kassel der elektrotechnische Straßenbahn-Ausrüster für Jahrzehnte festgelegt, man kann die Siemens-Schuckert-Werke zweifellos als einen der beiden damals führenden Straßenbahnausrüster Deutschlands und Europas bezeichnen. Zwar waren auch die früheren Lieferungen von v. d. Zypen & Charlier elektrotechnisch von Siemens ausgerüstet (Tatzlagermotoren, Fahrschalter, Lyra-Stromabnehmer usw.), aber durch den Zusammenschluss entstanden weitere Innovationen, die ihren Ursprung bei der EAG hatten. Das 1883 als DEG gegründete und 1887 in AEG umbenannte zweite große Berliner elektrotechnische Unternehmen hatte in Kassel  für den Autor leider  hieran keinen Anteil, obwohl der vorliegende AEG-Prospekt aus der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrh. ausgeführte Anlagen mit zahlreichen Abbildungen in größten (Barcelona, Sevilla, Kiew), großen (Breslau, Essen, Hamburg,  Stuttgart) wie mittleren Städten Europas und Deutschlands ausweist.

Der im TW 110 verwendete Fahrschalter hat, wie beide Bilder zeigen, zwei Fahrtbereiche mit insgesamt neun Stufen und einen Bremsbereich mit fünf Stufen. Leider liegen uns keinerlei Schaltungsunterlagen vor und Aufschrauben, Abklemmen, Messen und Untersuchen kommt selbstverständlich nicht infrage.

  • Die ersten fünf Fahrt-Stufen im Bereich I wurden über stufenweise reduzierte Vorwiderstände zur Anfahrt und Fahrt mit niedrigerer Geschwindigkeit, z. b. in den engen Altstadtstrecken und -kurven ausschließlich im sog. "Ankerstellbereich" betrieben: Mit den Vorwiderständen, die in Reihe zur Feldwicklung und Anker liegen, wurde die Spannung von 600 V und damit der Strom auf der jeweiligen Fahrtgeschwindigkeit und Belastung entsprechend niedrigere Werte begrenzt.
       
  • In den folgenden vier Fahrtstufen im Bereich II wurden entweder die Widerstände aus dem Bereich I oder weitere Widerstände stufenweise parallel zur Feldwicklung betrieben und setzten damit den durch die drehende Ankerwicklung bestimmten Anteil des Stroms für das magnetische Feld zurück. Somit wurden die beiden Motoren im sog. "Feldstellbereich" in Feldschwächung betrieben und die Fahrgeschwindigkeit konnte in der Ebene bei geringerem Drehmomentbedarf bis zur Höchstgeschwindigkeit gesteigert werden.
      
  • In den sechs Bremsstufen wurde das Feld im Verhältnis zum Anker umgepolt und die Motoren damit generatorisch auf die Widerstände abgebremst. Ob es auch eine Kurzschlussstufe gab wissen wir mangels möglicher Untersuchung nicht, wahrscheinlich weil üblich war es die sechste Stufe. Ab der Bremsstufe 1 wurden auch die Schienenbremsen über den Motorstrom erregt. 
       
  • Mit dem Richtungswählhebel (rechtes bzw. unteres Bild) konnte die Fahrtrichtung gewählt werden und bei "Vorwärts" auch der Fahrtbereich I + II, alternativ nur I oder II (letzterer möglicherweise nur zu Überprüfungen).

  • Die Fahrschalterkurbel für "Fahren" oder "Bremsen" war – mechanisch verriegelt – nur zu bedienen, wenn der Richtungswählhebel nicht in "Halt", sondern in einer der Vorwärts- oder Rückwärtsfahrstufen stand.
       
  • Der Richtungswählhebel war  mechanisch verriegelt – nur zu bedienen, wenn die Fahrschalterkurbel auf "0" stand  

Am zu besichtigenden Triebwagen TW 214 werden wir in den nächsten Wochen weitere technische Erläuterungen zum "Ankerstellbereich" und "Feldstellbereich" mit prinzipiellen Schaltplänen sowie Drehzahl-, Drehmoment- und Leistungs-Grafiken des Antriebs zum kostenfreien Download über QR-Code zur Verfügung stellen.

    

Nachfolgend eine Tabelle mit den aus der Betriebszeit des Triebwagens erhaltenen und jetzt aktuell errechneten technischen Daten

Erhaltene Daten:      
Hersteller Van der Zypen & Charlier Köln-Deutz  
Baujahr 1907                             
Indienststellung 16.01.1908    
Länge über Puffer 9.500 mm  
Aufbaulänge 8.850 mm  
Breite 2.100 mm  
Höhe ü. Schienen-Oberk.    3.900 mm eingezogener Stromabnehmer
Achsabstand 2.000 mm  
Spurweite 1.435 mm  
Leermasse 10.600 kg  
Stromsystem 600 V=  
Leistung vor Umbau 2 * 25 kW  
Modernisiert 1920 – 1923    
Leistung nach Umbau    2 * 40 kW  
Höchstgeschwindigkeit     40 km/h  
Motor-Nenndrehzahl 600 U/min  
Stirnrad-Übersetzung 14 : 73 Zähne = 1 : 5,21 ins Langsame  
Treibrad-Laufkreis-Ø 818 mm  
1. Betriebsbremse Motorstrom auf Widerstände    generatorisch  
2. Betriebsbremse 2 * Schienenbremse 2 * 3.000 kg  
Handbremse Feststellbremse arretierbare Kurbel   
Sitzplätze 20 12 in Queranordnung
8 in Längsanordnung
 
Stehplätze 16 inkl. Plattformen  
in Betrieb bis Ende 1959 danach Arbeitswagen  
Umrüstung als Pers.-TW 1977 zum 100-jähr. Jubiläum    Bauzustand ca. 1923   
Errechnete Daten:      
Treibrad-Umfang 2.570  mm  
Treibrad-Höchstgeschw. 11,11 m/s  
Treibrad-Höchstdrehzahl 4,323 U/s  
result. Motor-Höchstdrehz. 22,54 U/s  
entsprechend 1.352 U/min  

Da die Motor-Nenndrehzahl (heute als Bemessungsdrehzahl bezeichnet) nur 600 U/min beträgt, ist ein gleichzeitig betriebssicherer und wirtschaftlicher Betrieb nur mit Feldschwächung der Reihenschluss-Erregerwicklung durch parallel geschaltete, stufenweise erniedrigte  Widerstände realisierbar und wurde in vier Stufen im Bereich II durchgeführt. Die Anfahrt erfolgte im Bereich I in fünf Stufen mit in Reihe geschalteten, stufenweise reduzierten  Widerständen bis zur Motor-Nenndrehzahl von 600 U/min, was einer Triebwagen-Geschwindigkeit von ca. 17,7 km/h entspricht. 

Das Abbremsen des Fahrzeugs erfolgt durch Rechtsdrehung der Kurbel. Hierdurch wird im Fahrbereich II mit den höheren Geschwindigkeiten der der Reihenschluss-Feldwicklung parallel geschaltete Widerstand erhöht, es fließt ein höherer Anteil des Motorstroms durch die Feldwicklung, das Magnetfeld wird verstärkt und das Fahrzeug langsamer. Im Fahrbereich I erfolgt eine Erhöhung der dem Anker vorgeschalteten Widerstände und die Motordrehzahl sinkt auch.

Das Abbremsen bis zum Stillstand erfolgt im generatorischen Betrieb des Motors. Er wird von der Spannungsversorgung durch die Oberleitung abgetrennt und auf stufenweise niedrigere Widerstände geschaltet. Die Bewegungsenergie (kinetische Energie) des rollenden Fahrzeugs, ggf. sogar mit Beiwagen, wird in elektrische Energie umgewandelt und somit in Wärme in den Widerständen unter dem Fahrzeugdach. Anfänglich wurden auch Schienenbremsen in der höchsten Bremsstufe so betrieben, schon beim TW 110 wurde aber das Einschalten der ersten Bremsstufe als Kommando für die Versorgung der Schienenbremsen aus der Oberleitung genutzt.

Durch geschickte Auslegung der Widerstände können in allen drei Betriebsweisen (Anfahren und Beschleunigen / Fahren auf weitgehend ebener Strecke mit geringem Drehmomentbedarf / Abbremsen bis zum Stillstand) die gleichen Widerstände über den komplexen Fahrschalter, ausgebildet als vielgliedriger Nockenschalter, benutzt werden und dies in Kombinationen von Reihen- und Parallelschaltung.

Diese Kombination aus drei Betriebsweisen stellte auch vor über 100 Jahren schon die wirtschaftlichste Lösung dar und entspricht bis zum heutigen Tag sowohl der Arbeitsweise eines Fahrzeugs

  • mit Benzin- oder Diesel-Verbrennungsmotor und manuell sowie automatisch geschaltetem Getriebe mit der ersten und zweiten Betriebsweise    
  • als auch der aktuellen Elektrofahrzeuge mit Frequenzumrichter und nicht schaltbarem einstufigem Anpassgetriebe mit der Rückspeisung in die Batterie.

Der Straßenbahn-Triebwagen TW 110 an der Endhaltestelle der Linie 1 am Rande des Bergparks, im Hintergrund das historische Haltestellengebäude zur Zeit der Dampfstraßenbahn vom Kasseler Königsplatz "auf die Wilhelmshöhe"   

Derzeit steht der Triebwagen TW 110 in unserem Depot und kann leider nicht besichtigt werden

Oberstes Foto in der Kölnischen Straße und Tabelle: Volker Credé, TMK

Unterstes Foto am Haltestellengebäude Bergpark Wilhelmshöhe: G. A. Stör, Sammlung K. Baumecker 

Weitere Fotos, Tabellenergänzung, Berechnungen und Text: Wolfgang Dünkel, TMK

Quellen und Empfehlungen:

  • Ein Jahrhundert Kasseler Nahverkehr – Aus der Geschichte des Kasseler Nahverkehrs, G. A. Stör und Mitarbeitende, Hrsg. Kasseler Verkehrs-Gesellschaft Aktiengesellschaft, Seite 111 – 112
  • Detaillierte Angaben zu allen Kasseler Straßenbahnen und zum ÖPNV finden Sie unter dem Link Tram - Kassel 

(last update 12.03.2023)

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